Die neue Bibel der Wortliebhaber: Gesellschaftskritik an uns selbst?
Die Jobaussichten sind so abgezockt, da hilft nur ganz viel Namaste und Prokrastination. Darum googelte ich Couchsurfing, zappte mich durch Instagram, likte pixelige Roadtrip Schnappschüsse und daddelte mit dem Tablet. Weil die Lügenpresse nur Fake News verbreitet und auf Tinder nur Hipster im Undercut mit Low Carb Tipps stressen, tauschte ich den Hoodie gegen Jumpsuit und chillte lieber im Späti. Da traf ich einen Flexitarier, der total verpeilt drauf war und mir gleich eine Bierdusche verpasste. Der Honk knipste sofort ein Selfie mit mir und taggte mich auf seinem fancy Internetblog mit einem queeren Hashtag. Der will mit meinem Selfie doch bloß die Klickzahlen erhöhen! Da half nur eines: Schnell facebooken und diesen karrieregeilen Quotenkönig entfreunden, der postet eh nur Tüddelkram auf Ramschniveau. Der sollte mal mehr Hygge lesen! Ich verstehe diesen Medienhype sowieso nicht, dann lieber chillig die Work-Life-Balance beim Urban Gardening suchen. Aber erstmal geh ich zu einer oldschool Abrissparty und zieh mir’ne groovige Playlist mit Dubstep rein…
Die Freitagsgefühl Redaktion liebt es, mit Worten zu spielen und bedient sich freizügig der Wortneuschöpfung. Doch ob ihr es glaubt oder nicht, alle oben genannten Begrifflichkeiten sind seit diesem Mittwoch offiziell erlaubt. Der dicke Gelbe hat es genehmigt und 5.000 neue Wörter geschluckt.
Staubfänger oder Spiegel unserer Zeit?
Für Otto Normalverbraucher ist der Duden ein fieser Totschläger aus Schulzeiten. Für Redakteure und Wortliebhaber ist er kein bloßer Staubfänger, sondern der wichtigste Freund und Helfer. Mit strahlenden Augen erstand ich stolz direkt am Tag der Veröffentlichung ein druckfrisches Exemplar.
Worte sind ein mächtiges Werkzeug, die viel zerstören können, wenn man sie auf die Goldwaage legt oder achtlos damit umherwirft (siehe Trumps Twittereskapaden). Sie können auch zu Tränen rühren, tiefe Erleichterungsseufzer hervorrufen und schallendes Gelächter auslösen. Der neue Duden zeigt aber noch etwas: Die Sprache lebt. Sie spiegelt die aktuelle Gesellschaft wider, ob wir wollen oder nicht. Vergangene Zeiten zu analysieren ist viel einfacher als die Gegenwart einzunorden, denn schließlich sind wir alle direkt beteiligt. Doch die Sprache verrät so viel über uns, da kommt kein Totschweigen gegen an.
In was für einer Welt leben wir eigentlich?
Es ist bezeichnend, dass nationalsozialistisches Vokabular wie „Lügenpresse“ und „Volksverräter“ wieder Einzug in den Duden gehalten haben. Ein Wort muss nicht neu sein, um aufgenommen zu werden. Aber es muss eine gewisse Aufmerksamkeitsschwelle überschritten haben. Die Freqzuenz, Dauer und Breite des Auftretens eines Wortes sind entscheidend für die Duden-Redaktion, und auch, ob sich Fallstricke beim Schreiben ergeben. Nicht der Duden denkt sich die Wortschöpfungen aus, sondern unsere Gesellschaft.
Über Geschmack lässt sich streiten, aber aus dem kollegialen Gedächtnis ausradieren lassen sich Undercut, Jumpsuit & Co. nicht mehr so einfach. Und wie sehr wir auch über die sozialen Medien lästern, sie sind zu festen Bestandteilen unseres Alltags geworden. Die digitalen Medien haben sich in unseren Alltag geschlichen und ihn von hinten durch die Brust ins Auge erobert. So gleiten Verben wie „liken“ ganz selbstverständlich über unsere Lippen.
Doch dabei bleibt es nicht. „Tindern“ ist nicht bloß eine grenzwertige Freizeitbeschäftigung und Ego-Aufpolierung, sondern widerspiegelt tatsächlich eine neue Form der Beziehung(ssuche). Heute werden keine Ja-Nein-Vielleicht-Zettelchen mehr hin und her geschoben, sondern heute „parshippen“ Singles mit Niveau… .
Was bewegt uns Deutsche? Wie gehen wir mit digitalen Medien um? In was für einer Welt leben wir eigentlich? – So manche Antworten offenbaren sich auch ohne groß angelegte Forschungsstudien. Wir müssten nur einmal genau uns selbst zuhören. Mal nur einen Tag lang in den Bussen und Bahnen mitlauschen, in den Medien die Zeilen zwischen den (bewegten) Bildern lesen und in Gesprächen auf die Wortwahl achten, mal ehrlich ein offenes Ohr bereithalten.
5.000 neue Möglichkeiten
Der erste Duden von 1880 barg gerade einmal 27.000 Stichworte, der aktuelle listet 145.000! Vielleicht gefallen uns nicht alle davon, zeugen nicht alle von einer besonderen Schöngeistigkeit oder Weltoffenheit. Aber es sind 118.000 neue Möglichkeiten, unseren Gedanken, Gefühlen und Gesellschaftsentwürfen Macht zu verleihen. Es liegt an uns, wofür wir sie nutzen…
Tatsächlich beinhaltet die 27. Ausgabe des Duden aber nicht nur 5.000 neue Worte aus der verdenglischten Hipsterwelt, sondern auch einige Reformen der reformierten Reform der Rechtschreibreform. Und die sind – Überraschung – teilweise eine Erleichterung. Zum Beispiel haben Ketschup und Majonäse endlich zu augenfreundlichen Schreibweisen zurückgefunden (Ketchup und Mayonnaise).
Angeberwissen für die Kaffeerunde
Der Duden hat nicht nur in puncto Wortneuschöpfungen Neues zu bieten. Er wartet auch mit spannenden Rechtschreibänderungen auf. Die sollen hier natürlich nicht alle verraten werden. Da müsst ihr schon selbst ein wenig blättern. Nur diese Hinweise als kleinen Appetitanreger für euch und eure Kaffeeklatschpause im Büro.
- Bei zusammengesetzten Begriffen bleiben die Buchstaben erhalten:
→ z.B. Brennnessel, Teeei, Seeelefant, Dampfschifffahrt
- Klein + zusammen, wenn die Verbindung zweier Worte eine neue Bedeutung ergeben:
→ z.B. pleitegehen, aber: Rad fahren (Bedeutungen bleiben gleich)
- Verbindungen mit „sein“ werden grundsätzlich auseinander geschrieben:
→ z.B. dabei sein
Jetzt sind alle Klarheiten beseitigt, oder?! 😉 Falls nicht: Wer mit Texten hantiert, sollte sich unbedingt die Geschwister des gelben Duden zulegen. „Richtiges und gutes Deutsch“ beispielsweise ist mein Liebster und räumt endlich auf mit nervigen Rätseleien und Zwiespältigkeiten.
Hier kommen noch ein paar Fun Facts für alle Smalltalkler und Besserwisser unter euch
- Länge des Durchschnittswortes: 10,6 Buchstaben
- längstes Wort: Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (44 Buchstaben)
- Feminine Substantive: 45 %, maskulin: 35 % maskulin, neutrum: 20 %
- Substantive mit drei Artikeln: 0,02 %, Substantive ohne Artikel: 0,1 %
- Auswahl an Wörtern mit den meisten aufeinanderfolgenden Konsonanten:
Borschtsch, Geschichtsschreibung, Rechtsschrift, Weihnachtsschmuck - Auswahl an Wörtern mit den meisten aufeinanderfolgenden Vokalen:
Bioeier, Dreieiig, Treueeid, Donauauen, Milieuaufklärung